Prozessbericht Tag 4
Als ich eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn vor dem Eingang des Landgerichts eintraf, stand dort gerade die Familie des Angeklagten (Eltern und zwei ältere Brüder) und beobachtete mit bedrückten Mienen, wie der Gefangenentransporter (ein riesiger, uralter, dunkelgrüner Mercedes Vario Kastenwagen mit einer knapp unterhalb des Daches umlaufenden Reihe Fensterschlitze, der den Angeklagten jeweils aus dem 12 km entfernten Untersuchungsgefängnis in Stuttgart-Stammheim zu dem im Stadtzentrum gelegenen Landgericht fährt) rückwärts an das Gebäude heranrangierte und der Fahrer die Öffnung des Tors der Gefangenenschleuse anforderte…
In der Verhandlung kam es zu weiteren Zeugenvernehmungen.
Einer der beiden Polizisten, die den Angeklagten vom Unfallort weg und aufgrund der Empfehlung der Psychologischen Notfall-Erstbetreuerin in eine Klinik für seelische Gesundheit brachten, sagte, er habe sichtlich unter Schock gestanden. Während der Fahrt sprach er "kindlich und abgehackt". Er fragte beide Polizisten nach ihrem Alter und sagte auf deren Antwort hin, er sei 20 und werde seinen 21. Geburtstag wohl nicht mehr erleben. Unterwegs fragte er nach der Motorisierung des Streifenwagens (was die Besatzung nur mit Vermutungen beantworten konnte). Nach dem Aussteigen musste er beim Gehen gestützt werden.
Ein Anwohner aus der Nähe des Unfallortes beobachtete den Jaguar am Nachmittag von seinem Balkon im 7. Stock, wie dieser die Straße vor seinem Haus mehrfach über ein paar hundert Meter stark beschleunigend entlangfuhr und dann jeweils in einem Wende-U-Turn durch den Mittelstreifen umdrehte. Gegenüber befindet sich eine Polizeiwache, wo während dieser Fahrten ein Streifenwagen gerade ankam. Die gerade ausgestiegene Besatzung drehte sich ob der Geräuschentwicklung um, sah den Jaguar, blickte diesem noch eine Weile, vermutlich mit einer gewissen Bewunderung nach und verschwand dann im Gebäude. Der Zeuge hatte bereits überlegt, wegen der Fahrmanöver des Jaguar die Polizei zu verständigen, dachte dann aber "Na wenn die es wissen und nichts machen, brauch ich auch nicht anrufen".
Ein Fußgänger sah den Jaguar in einer Tempo-30-Zone mit geschätzten 80 - 100 km/h fahren.
Einem Hausmeister, der nach seinem Arbeitsende gegen 16 Uhr durch das Stadtzentrum fuhr, fiel der Jaguar durch extremes Lückenspringen und häufiges starkes Beschleunigen, Abbremsen und nahes Auffahren im dichten Stadtverkehr auf.
Ein Polizist beobachtete als Fußgänger in seiner Freizeit, wie der Jaguar auf zwei "Bremsschwellen", die auf einer Straße, die die größte Fußgängerstraße von Stuttgart quert, auf beiden Seiten derselben installiert sind, jeweils mit hoher Geschwindigkeit zufuhr, scharf bremste, die Schwelle notgedrungen langsam überquerte, auf den wenigen Metern bis zur zweiten Schwelle wieder beschleunigte und bremste, drüberfuhr, wieder stark beschleunigte, etwas weiter wendete und dasselbe in der Gegenrichtung wiederholte. Wenigstens waren zu dem Zeitpunkt ausnahmsweise keine Passanten dort unterwegs.
Ein Lokführer, ebenfalls zu Fuß unterwegs, beobachtete, wie der Jaguar unter Missachtung der Vorfahrt aus einer Nebenstraße mit so hoher Geschwindigkeit in eine größere Straße einbog, dass er sich wunderte, wie es überhaupt möglich ist, dort mit dieser Geschwindigkeit die nur ca. 3 Meter breite, einzige zwischen Stadtbahnhaltestelle und Gehweg vorhandene Fahrspur überhaupt zu "treffen".
Ein Privatier war nach einem Restaurantbesuch vor dem Restaurant vorgefahren, um seine wegen einer kürzlichen Fuß-OP schlecht gehfähige Frau direkt vor dem Haus einsteigen zu lassen, und blockierte dadurch die allerdings sehr kleine, nur wenig befahrene, einspurige Straße, die von ihrem Charakter her eigentlich mehr Fußgängerzone als Autostraße ist ("Shared Space"). Unmittelbar nachdem er ausgestiegen war, um seiner Frau beim Einsteigen zu helfen, erschien hinter ihm der Jaguar. Während des dann etwas länger dauernden Einsteigens der Frau und weiterer älterer Begleiter und des Verstauens der Gehstöcke im Kofferraum ließ der Angeklagte den Motor etwa 20 mal vermutlich mit Vollgas so laut aufheulen, dass es auf die älteren Mitfahrer wie eine Bedrohung wirkte.
Einem am frühen Abend an einer Stadtbahnhaltestelle wartenden Musiklehrer war der an einer roten Ampel als erster Wagen wartende Jaguar zunächst nur wegen der für einen solchen Wagen s. E. unpassenden weißen Lackierung aufgefallen. Kurz darauf hielt neben dem Jaguar ein Porsche 911. Als der Jaguar-Fahrer ihn bemerkte, gab er mehrere kräftige Gasstöße, ließ die Antriebsräder im Stand durchdrehen und versuchte mit dem Porsche-Fahrer Blickkontakt aufzunehmen. Der Zeuge hatte den Eindruck, dass der Porsche zu einem Beschleunigungsrennen aufgefordert werden sollte. Als die Ampel grün wurde, fuhr der Jaguar vermutlich mit Vollgas, jedenfalls mit so laut aufheulendem Motor und quietschenden Reifen an, dass die mehreren Dutzend an der Stadtbahnhaltestelle Wartenden sich schlagartig in die Richtung umdrehen und die Szenerie verfolgten. Der Porsche beschleunigte ebenfalls stark, es blieb aber unklar, ob er ernsthafte "Rennabsichten" verfolgte. Die Motoren waren jedenfalls noch auffallend lange zu hören, nachdem die Fahrzeuge bereits aus dem Blickfeld verschwunden waren.
Ferner wurden Videos vom Handy des Angeklagten gezeigt. Aus glücklichen Tagen, wenn man das so sagen kann… Sie zeigen ihn und einen seiner Brüder (der auch im Publikum anwesend war) scherzend, feixend und mit strahlenden Gesichtern sowohl am Tag des späteren Unfalls im Jaguar als auch bei einer früheren Miete des BMW M4 derselben Autovermietung bei zügigen Fahrten durch Stuttgart und seine Tunnel… Nicht nur dort lässt die beeindruckende Klangkulisse des Jaguar durchaus etwas von der Faszination dieses Autos erahnen…
Ein weiteres Video war der Polizei durch Zufall in die Hände gefallen. Ein junger Mann hatte kurz nach dem Unfall eine Nacht in Polizeigewahrsam verbracht, nachdem er bewusstlos (Trunkenheit o. Ä.) in der Öffentlichkeit aufgefunden worden war. Als ihm am nächsten Morgen zwecks Entlassung sein Handy zurückgegeben wurde und er sofort das Display aktivierte, poppten dort eine Reihe Benachrichtigungen in der WhatsApp Group "NordBronx" auf, was dem aufmerksamen Beamten auffiel, da dies die WhatsApp Group der Clique des Angeklagten war und deren Name dem Beamten aus der polizeiinternen Kommunikation geläufig war, obwohl er mit dem Unfall selbst gar nicht befasst war. So wurde das Handy sofort wieder zurückgenommen, beschlagnahmt und ausgewertet. Der Eigentümer war demzufolge einer der Mitfahrer im Jaguar am Tag des späteren Unfalls gewesen. Ein Video zeigt - neben dem am Steuer sitzenden Angeklagten, so dass damit auch die Zuordnung gleich zweifelsfrei geklärt ist - einen Beschleunigungsvorgang auf der nächtlichen Autobahn nahe Stuttgart (Streckenabschnitt ohne Tempolimit), bei dem die Tachonadel bis in das Intervall zwischen den Markierungen 270 und 280 ansteigt. Da die Bildqualität nicht optimal und die Aufnahme ziemlich wackelig ist, ließ die Vorsitzende Richterin die Sequenz mehrmals wiederholen, bis identifiziert werden konnte, dass die Anzeige maximal 274 km/h erreichte.
Der Angeklagte verfolgte den Tag wie immer konzentriert aber regungslos.