Prozessbericht Tag 9
Es werden Videos der meistgefahrenen Strecken des Angeklagten am Unfalltag gezeigt, die ein Videofahrzeug der Polizei aufgenommen hat.
Aufgrund des von den meisten Zeugen der Jaguar-Fahrten nicht 100 %ig sicheren Identifikation des späteren Unfallfahrzeugs hat die Polizei die Anzahl der in Stuttgart und den sechs umliegenden Zulassungsbezirken gemeldeten F-Type Coupé (ohne Einschränkung der Farbe) erhoben. Neben dem Unfallwagen handelt es sich um 21 Exemplare. (Für mich ein unerwartet niedriger Wert.) Diese sind "mit deutlicher Mehrheit" weiß.
Vorsitzende Richterin: "Ach ist Weiß da besonders beliebt? Naja, Ferraris sind ja soviel ich weiß meistens rot, vielleicht ist bei den Dingern ja Weiß die typische Farbe."
Die Sportwagen-Affinität der etwa 50-jährigen Ur-Schwäbin bewegt sich in engen Grenzen, trotzdem beherrscht sie inzwischen sogar die verschiedenen Anordnungen der Auspuffrohre des F-Type in Abhängigkeit von der Zylinderzahl.
Die Halter aller 21 Wagen wurden von der Polizei angeschrieben und gefragt, ob und wo der Wagen am Unfalltag unterwegs war. Alle haben geantwortet. 4 der Autos haben eine einmalige Fahrt durch Stuttgart gemacht, davon hat nur eines eins der zwei Haupt-Aktionsfelder des Angeklagten tangiert. Dass Zeugen ein anderes als das Unfallfahrzeug beobachtet haben, ist deshalb wenig wahrscheinlich. Mit demselben Ortskennzeichen ist nur ein einziger F-Type zugelassen, und zwar auf einen Handwerksbetrieb. Gefahren wird er nahezu ausschließlich von der Ehefrau des Inhabers. Er ist ebenfalls weiß, soll den ganzen Tag auf dem Firmengelände und ab dem Abend auf einer nahen Straße abgestellt und nicht in Stuttgart gewesen sein.
Die Verteidiger fragen, ob die Aufenthaltsangaben dieses Wagens von der Polizei überprüft wurden. Dies wird verneint. Die Vorsitzende kündigt an, um einem Beweisantrag der Verteidigung zuvorzukommen, den Halter und seine Ehefrau als Zeugen zu laden.
Als Zeuge berichtet ein Anwohner nahe dem Unfallort, er habe in den Abendstunden mindestens dreimal ein besonders laut und sportlich klingendes Fahrzeug durch das offene Fenster gehört, allerdings nicht gesehen. Es sei aber sicher immer dasselbe Geräusch/Fahrzeug gewesen. Nach mehreren Vorbeifahrten meldete er es telefonisch der ca. 1 km entfernten Polizeiwache. Der Polizist habe sich unwillig gezeigt, etwas zu unternehmen und eine Art Disput angefangen. ("Ist das Auto nur laut oder ist es unzulässig laut?... Für eine Geschwindigkeitsmessung habe ich zur Zeit kein Equipment zur Verfügung… Einen Streifenwagen, der da mal hinfährt, habe ich gerade nicht da…"). Nach längerem Hin und Her habe der Zeuge dann aufgegeben. Darüber spricht er auch in diesem kurz nach dem Unfall veröffentlichten Video (ab 0:33):
Ein 18-jähriger Mitfahrer des Angeklagten berichtet, dass dieser ihn am Unfalltag aus dem heimischen Nordbahnhofsviertel zu seiner Fahrschule im Stadtzentrum gefahren habe. Dabei sei er nie schneller als 60 gefahren und habe nur einmal an der Ampel stehend ganz leicht aufs Gas getippt.
Als weiterer Zeuge sagt ein 29-jähriger Mitfahrer aus. Er habe nicht zum eigentlichen Umfeld des Angeklagten gehört, weil er ja wesentlich älter und im Viertel und der Shisha-Bar deshalb eine Art Respektperson sei. Diesen Anspruch untermauerte er eindrucksvoll mit einem Wortschatz, der im Wesentlichen aus den Worten "ganz normal" besteht und damit selbst für die Beantwortung einfacher Fragen der Vorsitzenden nicht ausreichte. Etwa so:
VORSITZENDE: "Herr X, wo sind Sie denn… "
ZEUGE: "Ganz normal."
VORSITZENDE: "Moment, ich wollte erstmal wissen, WO sie mit dem Angeklagten langgefahren sind, und noch nicht, WIE."
ZEUGE: "Ja ganz normal bis zur Ampel und dann noch weiter gradeaus."
VORSITZENDE: "Bis zu welcher Ampel und auf welcher Straße?"
ZEUGE: "Ich weiß nicht wie die Straße heißt. Ich fahr selber auch immer so. Ganz normal halt."
VORSITZENDE: "Aber ich weiß nicht, wie Sie immer fahren, verstehen Sie, ich bin ja meist nicht dabei. Wo sind Sie denn eingestiegen?"
ZEUGE: "Bei mir vor der Tür."
VORSITZENDE (schlägt in ihren Unterlagen nach): "Also in der Nordbahnhofstraße XY. Und von dort stadteinwärts oder stadtauswärts?"
ZEUGE: "Äh… ja wie gesagt, ganz normal. Milchhof vor und dann runter."
VORSITZENDE: "Gut, dann sind Sie wahrscheinlich die Nordbahnhofstraße stadteinwärts gefahren. Und dann an der ersten Ampel nach rechts in die Friedhofstraße oder noch geradeaus in Richtung Wolframstraße?"
ZEUGE: "Gradeaus. Ganz normal. Hab ich ja schon gesagt."
VORSITZENDE: "Dann sind Sie wahrscheinlich die Nordbahnhofstraße bis zur Wolframstraße gefahren, dort rechts in diese eingebogen und dann an der nächsten Ampel nach rechts in die Heilbronner Straße, ist das richtig?"
ZEUGE: "Ja wahrscheinlich, wie gesagt, ich weiß die Straßennahmen nicht."
VORSITZENDE: "Gut. Und WIE ist der Herr T. da gefahren?"
ZEUGE: "Ganz normal. Hab ich Ihnen ja schon gesagt. Nicht zu schnell, wie man halt fährt. Ganz normal halt."
Die kabarettreife Einlage sorgte in der nächsten Pause für reichlich Gesprächsstoff :-)
Eine Polizistin, die sich am Unfallort um die Opfer gekümmert hat, berichtet von ihrem Einsatz. Nachdem die Toten aus ihrem Wagen geborgen waren, wurden sie nach Ausweispapieren durchsucht, die in den Geldbörsen auch gefunden wurden. Kontaktadressen von Angehörigen waren jedoch nicht verzeichnet. Nach längerem Versuchen gelang es, das Smartphone des Fahrers mit seinem Fingerabdruck zu entsperren. Über die Suche nach seinem Nachnamen in der Kontaktliste wurden Angaben zu seinem Vater gefunden. (Die Kontaktaufnahme mit den Eltern erfolgte natürlich persönlich durch die Polizei vor Ort am Niederrhein.)
Die Vorsitzende fragt die Polizistin auch nach ihrem Eindruck von dem Autovermieter vor Ort, der sich vor Gericht als Zeuge so auffallend betroffen von den Unfallfolgen gezeigt habe (ich berichtete), und ob sie ihm seine Betroffenheit "abnehme". Die Polizistin sagte, auf jeden Fall, er und seine Frau seien vor Ort sichtlich erschüttert gewesen. Seine Frau habe geweint, als sie erfuhr, dass durch ihren Jaguar zwei Menschen getötet worden waren. - Auch mein Eindruck ist, dass der Vermieter von all den Dutzenden von Zeugen, insbesondere Mitfahrern, der Einzige war, dem das Schicksal der Toten naheging. (Wie ebenfalls berichtet, gab er sein Geschäft am Tag nach dem Unfall auf.)
Zwei Jaguar-Mitfahrer aus dem Umfeld des Angeklagten berichten von ihren Fahrten, einmal die offensichtliche "Standardstrecke" rund ums Nordbahnhofsviertel, einmal ins Stadtzentrum, dort eine bekannte Poserstraße rauf und wieder runter. Der letztere Mitfahrer interessiert sich überhaupt nicht für Autos.
Beisitzende Richterin: "Warum fährt man dann überhaupt mit, wenn einen das Auto gar nicht interessiert? Nur um die Zeit rumzukriegen?" Zeuge: "Ja klar, das ist doch eine gute Gelegenheit dafür."
Ein 19-jähriger Zeuge ebenfalls aus dem Umfeld des Angeklagten wird in Handschließen, wie es offiziell heißt, aus der Untersuchungshaft vorgeführt. Im Rahmen der Standardansagen und Fragen der Vorsitzenden zu Beginn jeder Zeugenvernehmung (Personalien, Wahrheitspflicht/Strafbarkeit von Falschaussagen, mit dem Angeklagten nicht verwandt oder verschwägert? etc.) antwortet der Zeuge auf die Frage "Und wegen einer Falschaussage als Zeuge sind Sie auch noch nie vor Gericht gestanden?": "Doch." Die Vorsitzende blickt ungläubig auf: "Was haben Sie gesagt?" Zeuge: "Ja, bin ich." Die Vorsitzende blickt die 4 Mitglieder der Kammer an und sagt "Diese Antwort hab ich auf die Frage noch nie bekommen. In all den Jahren." Sie fragt den Zeugen, worum es in seiner Falschaussage gegangen war. Er sagt, bei der Vernehmung zu einer Kneipenschlägerei habe er für einen Kumpel gelogen. Die Vorsitzende ermahnt ihn, sich dann aber diesmal "umso mehr an die Wahrheit zu halten" und vernimmt ihn trotzdem.
Auch er fuhr im Jaguar mit und ist hinsichtlich des Fahrstils etwas auskunftsfreudiger als die Anderen. Der Angeklagte sei viel zu schnell gefahren. Auf die Frage, ob er Angst gehabt habe, sagt er "Ja, ich hatte Angst. Sehr große Angst sogar. Wir sind am Milchhof runter über 100 gefahren [Tempo 30 Zone]. Ich hab zu ihm gesagt, er soll mal normaler fahren." Danach sei der Fahrer langsamer, aber immer noch viel zu schnell gefahren. Es habe Streit gegeben wegen der Fahrweise, und beim Aussteigen habe er dem Fahrer gesagt "Mit dir fahr ich nie wieder." Vor der Shisha-Bar habe er die Anderen, die dort zum Mitfahren förmlich Schlange standen (es sei ein regelrechter Dauer-Fahrbetrieb gewesen, allein die Mitfahrten, die er mitbekommen habe, seien etwa 25 Stück gewesen) gewarnt: "Fahrt nicht mit dem! Das ist echt gefährlich!"
Beim Verlassen des Zeugenstandes würdigt er den Angeklagten keines Blickes, im Gegensatz zu allen anderen Kumpels, die ihm alle irgendwann einen kurzen, meist freundschaftlich-mitleidigen Blick zugeworfen haben.