Am Vorabend der Urteilsverkündung:
meine Meinung und Prognose zum Urteil
Nun ist die Hauptverhandlung beendet und das Letzte Wort des Angeklagten gesprochen im ersten "Raser-Prozess" in Baden-Württemberg, und die Vorsitzende Richterin dürfte die Urteilsbegründung fertig haben... Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, welches Urteil ich selbst sprechen bzw. für gerecht halten würde. Aber auch darüber, welches die Große Strafkammer, bestehend aus der Vorsitzenden, zwei Beisitzerinnen und zwei Schöffen, voraussichtlich tatsächlich fällen wird.
Es waren ja mehrere Entscheidungen zu treffen.
Einmal die Frage der Anwendung von Jugend- oder Erwachsenen-Strafrecht.
Dann die Frage nach dem Straftatbestand, also ob auf Fahrlässige Tötung, Verbotenes Kraftfahrzeugrennen oder Mord zu erkennen ist.
Und schließlich natürlich das Strafmaß.
M. E. ist hier ganz klar Jugendstrafrecht anzuwenden.
Zum einen begründet sich das aus der Tat selbst. Geld und Zeit (8 Stunden am Stück) dafür zu verwenden, mit einem auffälligen Wagen durch die Stadt zu rasen und dabei mit aufheulendem Motor etc. um Aufmerksamkeit nicht nur von Freunden, sondern auch von Fremden zu buhlen, offenbart für mich sogar eher ein kindliches als jugendliches Gemüt. (Daran ändert es nichts, dass auch Ältere, für die deshalb Jugendstrafrecht nicht mehr in Betracht kommt, sich mitunter gleich verhalten.)
Das Auftreten des Angeklagten im Gerichtssaal wirkt unsicher, verlegen und eingeschüchtert. Er machte auf mich manchmal den Eindruck "Warum so ein Riesen-Verfahren für mich kleinen Kerl…?"
Auch die Suizidgedanken nach dem Unfall sprechen m. E. für Unreife. Auch wenn das Bewusstsein, soeben zwei Menschen getötet zu haben, natürlich jeden Menschen in einen psychischen Ausnahmezustand versetzen kann, halte ich dennoch den sofortigen Gedanken an Suizid für einen Ausdruck jugendlicher Maßlosigkeit und Übertreibung.
Die betreuende JVA-Sozialarbeiterin hat sich - nach immerhin einem halben Jahr Beobachtung - sehr klar, auch anhand von belegenden Beispielen, über jugendliche Züge in seiner Persönlichkeit geäußert.
Das für die Entscheidung über die Anwendung von Jugend- oder Erwachsenen-Strafrecht vorgeschriebene jugendpsychiatrische Gutachten wurde zwar wie berichtet unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgetragen. Dessen ungeachtet hatte der FOCUS bereits vorher Auszüge daraus veröffentlicht, die ebenfalls klar auf einen noch jugendlichen Entwicklungsstatus hindeuten:
Im März raste er mit einem gemieteten, 550 PS starken Jaguar durch die Stuttgarter Innenstadt, verlor die Kontrolle über das Fahrzeug und tötete ein junges Paar aus dem Rheinland. Seit Mittwoch steht der 20-jährige Mert T. vor Gericht. Wie FOCUS Online erfuhr, plädiert der psychiatrische...
www.focus.de
Hinsichtlich des Straftatbestands (Mord, Verbotene Kraftfahrzeugrennen oder Fahrlässige Tötung) würde ich auf Verbotene Kraftfahrzeugrennen erkennen.
Für Mord müsste (wie seinerzeit beim Berliner Fall breit diskutiert) ein bedingter Vorsatz vorliegen, das heißt, der Tod müsste billigend in Kauf genommen werden. Der Täter muss also die innere Einstellung haben "Es könnte jemand sterben - und wenn schon" und nicht (wie bei Fahrlässiger Tötung) "Es könnte jemand sterben, aber es wird schon gut gehen". Den bedingten Vorsatz kann ich im vorliegenden Fall nicht erkennen. Eine billigende Inkaufnahme auch nur eines (gar nicht mal tödlichen) Unfalls schließe ich schon deshalb aus, weil der Fahrer damit ein erhebliches Risiko auch für sich selbst hätte akzeptieren müssen. Ebenso eine erhebliche Strafe (und sei es nur ein schmerzhaftes Bußgeld) bzw. ein längeres Fahrverbot sowie die Verweigerung weiterer Anmietungen durch den Autovermieter. Alles dies muss jemand, in dessen Kopf die Leidenschaft für schnelle Autos einerseits zentral, andererseits auch weitgehend einziges Interessengebiet ist, eher konsequent zu vermeiden suchen.
Stattdessen war er mit seiner - mit Blick auf das durch Dutzende Zeugen doch einigermaßen erhellte soziale Umfeld und Freizeitverhalten - vermutlich überschaubaren Intelligenz m. E. wirklich der Meinung, er hätte den Wagen im Griff. Ich sehe ihn insofern gewissermaßen auch als Opfer seiner eigenen Beschränktheit.
Die Annahme, es werde schon gut gehen, spräche also für Fahrlässige Tötung - wenn nicht ganz neu, vor gerade mal zwei Jahren, angesichts der sich häufenden schweren Raser-Unfälle eine speziell darauf ausgerichtete neue Vorschrift ins Srafgesetzbuch aufgenommen worden wäre:
§ 315d StGB - Einzelnorm
M. E. hat der Täter den Tatbestand gemäß Absatz 5 verwirklicht.
Das Strafmaß liegt demzufolge bei einer Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren. Bei Anwendung von Erwachsenenstrafrecht würde ich angesichts der Schwere der Tat und ihrer Folgen eine Strafe im Bereich des Höchstmaßes sehen. Im Jugendstrafrecht steht bei der Strafzumessung aber der Gedanke der Resozialisierung (wie ich meine, aus guten Gründen) ganz im Vordergrund. Dabei spielt u. a. die Sozialprognose des Täters eine Rolle, und dazu würde ich mal Folgendes sagen.
Der junge Mann hat mit dem Interesse an Autos immerhin etwas, das für ihn wichtig ist, ihn begeistert und vielleicht so etwas wie ein "Lebensthema" werden könnte. So etwas ist keineswegs selbstverständlich, gerade in diesem bildungsfernen Milieu. Insbesondere hatten bspw. mehrere als Zeugen vernommene Kumpels, die gerade arbeitsuchend oder auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind, auf Fragen der Vorsitzenden, in welchem Bereich sie als was arbeiten oder sich ausbilden lassen wollen, nicht die leiseste Vorstellung. Das ist beim Angeklagten anders. Er hat einen Ausbildungsplatz bei einem der gesuchtesten Arbeitgeber der Region, der Daimler AG. Deren Ausbildungsplätze liegen nicht auf der Straße herum, sondern die Nachfrage danach übersteigt das Angebot grundsätzlich um ein hohes Vielfaches. Dass er einen davon bekommen hat, lässt mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Können und/oder Engagement, jedenfalls auf eine gewisse Zielstrebigkeit schließen. Dies deckt sich mit der häufig und übereinstimmend aus seinem Umfeld gehörten Aussage, er sei strebsam und nehme seine Ausbildung ungewöhnlich ernst und an den Treffen seiner Clique nur am Wochenende teil. Es ist also zu erwarten, dass er sobald als möglich seine Ausbildung erfolgreich abschließt, vielleicht sogar ein FH-Studium anschließen, in jedem Fall aber seinen Lebensunterhalt bestreiten und einen gesellschaftlichen Beitrag leisten wird.
Für ihn spricht ferner, dass er weder vorbestraft noch mit Straßenverkehrsdelikten selbst kleinerer Art bislang jemals aktenkundig geworden ist.
Gegen ihn spricht natürlich die Schwere seiner Schuld.
Im Zuge der Beweisaufnahne wurde zum einen offenkundig, dass er nicht etwa einmal kurz aufs Gas gedrückt hat (was wohl Jedem schon mal passiert ist), sondern den gesamten Nachmittag und Abend verkehrswidrig herumgerast ist und diesen Fahrstil dermaßen zeitlich ausgedehnt praktiziert hat, dass es quasi eine Frage der Zeit war, bis etwas passieren würde.
Und dann natürlich das Unfallgeschehen selbst. Auch Rasen ist nicht gleich Rasen, und ich finde hier das Tatverhalten in besonders hohem Maße verwerflich: besonders hohe Geschwindigkeit, vorausgehende Vollgasbeschleunigung, eingeschränkte Sichtverhältnisse durch Nachtzeit, beidseitig durchgehend beparkte, schmale Straße mit durch gekrümmten Verlauf begrenzter Sichtweite, und das alles in Annäherung an einen innenstädtischen Bereich mit einem Großkino (7 Säle), Kneipen etc.
Vergleicht man bspw. mit dem Ku'damm-Fall, war dort zwar das Geschwindigkeitsniveau dasselbe, die in beiden Fahrtrichtungen mehrspurige Straße aber ungleich übersichtlicher und mit querenden Fußgängern oder aus parkenden Fahrzeugen Aussteigenden überhaupt nicht zu rechnen. Insofern würde ich die Schuld hier noch höher einstufen als im Berliner Fall.
Fasst man nun alles zusammen, würde ich in dem Strafrahmen des § 315d Abs. 5 von 1 - 10 Jahren vor dem Hintergrund Jugendstrafrecht die Spanne halbieren, so käme man auf 5,5 Jahre, die ich wegen der besonderen Verwerflichkeit der Tat auf 6 Jahre erhöhen würde.
Mein Petitum für das Urteil wäre also eine Jugend-Freiheitsstrafe von 6 Jahren wegen Verbotenem Kraftfahrzeugrennen.
Die andere Frage ist dann natürlich, wie die Kammer voraussichtlich tatsächlich urteilen wird. Natürlich kann man von einer erfahrenen Mitte 50-jährigen Vorsitzenden Richterin am Landgericht grundsätzlich eine entsprechende Professionalität erwarten. Ich habe aber auch den ganz persönlichen Eindruck, dass sie sehr ausgewogen alle be- und entlastenden Aspekte berücksichtigt und keinerlei, sei es auch subtil wahrnehmbare, persönliche Abneigung gegen den Angeklagten hegt. Ich gehe deshalb von einem wohlabgewogenen Urteil und einem weder besonders niedrig noch besonders hoch ausfallenden Strafmaß aus.
Meine Prognose - wenn ich eine abgeben müsste - wäre, dass die Kammer zu demselben Urteil kommt wie ich vorstehend. Sollte abweichend doch auf Mord erkannt werden (Höchststrafe aufgrund Jugendstrafrecht 10 Jahre), prognostiziere ich, dass das Strafmaß sich ebenfalls in der von mir befürworteten Höhe von 6 Jahren bewegen wird. Für den Fall einer Verurteilung wegen Fahrlässiger Tötung (Höchststrafe 5 Jahre) prognostiziere ich (wegen Jugendstrafrecht) 3 Jahre. Was vielleicht nach wenig klingt, aber auch schon eine unvorstellbar harte Strafe ist.
Morgen um 9* wird das Urteil verkündet. Ein Termin, dessen Herannahen nicht nur den Angeklagten, sondern mit Sicherheit auch seine Eltern und Brüder und natürlich die Eltern der Unfallopfer in diesen Stunden nochmal in höchste Anspannung versetzen dürfte.
Mit enormer Presse- und Publikumspräsenz ist zu rechnen. Ich habe mir vorgenommen, um 7 im Gericht zu sein ;-)
* verschoben auf 10 Uhr