Das Stigma der Arbeitsverweigerer
Selbst nach jetziger Rechtslage der Sozialgesetzgebung ist der Löwenanteil der ausgesprochenen Sanktionen eher zweifelhaft bis deutlich rechtswidrig. Obschon der Boulevard-Journalismus, der allerdings mit einigen seiner Argumentationsmuster inzwischen bis weit in die vermeintlich seriösen Medien hineinreicht, wie auch die Stammtische die Ursachen hierfür sofort holzschnittartig bei den „faulen Arbeitslosen“ finden, ist nicht die Ablehnung von Jobangeboten der Hauptgrund dieser Sanktionen, sondern in rund 70 Prozent der Fälle handelt es sich sogenannte Meldeversäumnisse. Dies kann ebenso ein nicht eingehaltener Gesprächstermin wie auch ein Termin, der wegen verspäteter Benachrichtigung nicht wahrgenommen werden konnte. Immer wieder wird von Betroffenen darüber berichtet, dass Einladungsschreiben erst am Vortag oder am Tag des Gesprächstermins die Eingeladenen erreichen. Gelegentlich auch erst nach diesem. Zunehmend gibt es Sanktionierungsversuche seitens der Jobcenter, welche trotz einer vorliegenden ärztlichen Krankschreibung auf ein Erscheinen der Betreffenden bestehen oder alternativ eine ärztliche Bettlägerigkeitsbescheinigung fordern. Trotz Krankschreibung könnten die Betreffenden einen Termin wahrnehmen.
Ebenfalls häufen sich die Fälle, nach denen Sanktionen wegen „fehlender Mitwirkung“ ausgesprochen werden, weil auf sonderbare Weise immer wieder Unterlagen auf dem Postweg verloren gehen. Häufig wird auch der Versuch, dies zu umgehen, indem die geforderten Unterlagen persönlich im jeweiligen Jobcenter abgegeben werden, gezielt sabotiert. Entgegen inzwischen mehrfach ergangener gegenteiliger Rechtssprechung wird seitens der Mitarbeiter der Jobcenter eine schriftliche Bestätigung zur Übergabe der Unterlagen verweigert. Dieses Verhalten dürfte jedoch kaum auf persönliche Präferenzen der Mitarbeiter zurückgehen, sondern seine Ursache in internen Dienstanweisungen haben. Es ist sogar ein Fall bekannt, bei dem eine Mitarbeiterin am Informationscounter die Annahme von Dokumenten mit der Begründung verweigert hat, dass dies außerhalb der Dienstzeit der Arbeitsvermittler nicht zulässig wäre. Anschließend wurde ein Security-Mitarbeiter aktiv, indem er seinerseits nun sogar den Einwurf in den Hausbriefkasten zu verhindern suchte.
Am Ende all dieser Verhinderungshandlungen steht immer wieder das Gespenst der Regelsatz-Sanktion. Sanktionen, mithilfe derer interne Vorgaben zu Sanktionsquoten erreicht und somit Einsparungen erzielt werden sollen. Ob die Faktenlage Sanktionen überhaupt sachlich rechtfertigt, spielt so gut wie keine Rolle.
Realitäten aus der Arbeitsverweigerungs-Praxis
Der Kernvorwurf gegenüber Arbeitslosen lautet regelmäßig, dass diese sich weigern würden, ihnen angebotene Arbeit anzunehmen. Sie seien zu faul dazu. Sie würden lieber bis mittags im Bett liegen, um anschließend, die erste Flasche Bier in der Hand haltend, mit der anderen Hand die Fernbedienung des Fernsehers zu betätigen. Dies wird medial auch gern mit den
passenden gestellten Fotos vermittelt. Alternativ hierzu wird ebenfalls der arbeitsscheue Drückeberger, welcher schon früh 7 Uhr mit der Flasche Korn am Kiosk seinen Saufkumpanen zuprostet, den Lesern populistisch als Stigmatisierungsopfer angeboten. Boulevardmedien setzen diese Vorurteile mit der ihnen eigenen verhetzenden Kampagnenfähigkeit in die Welt und erreichen damit einen, wenngleich kleineren, Teil der Bevölkerung. Früher oder später greifen die vermeintlich seriösen Medien dies in abgeschwächter Form auf und erzielen damit hohe Zustimmungsquoten, da dies ja schon zuvor von anderer Seite festgestellt wurde, während sie ihrerseits diese Vorurteile weniger pauschaliert und nunmehr aus seriöser Quelle bestätigen.
Doch schon der oben dargelegte Anteil der „Meldeversäumnisse“ von 70 Prozent an den Sanktionen zeigt, dass diese Vorurteile wenig Bezug zur Realität haben. Doch auch wenn man sich dem kleineren Teil der so apostrophierten „Arbeitsverweigerungen“ zuwendet und die einzelnen Fälle näher betrachtet, hält das simple Stigma des „Die-sind-bloß-zu-faul-zum-arbeiten“ den Fakten meist nicht stand. Das kann zum Einen der studierte Informatiker, der zuletzt 10 Jahre als Netzwerk-Systemadministrator gearbeitet hat und der nun zu einem Weiterbildungkurs „Grundlagen des Umgangs mit Computern“ zwangsverpflichtet wird, sein. Oder die Einzelhandelskauffrau, welche ein kostenloses mehrwöchiges Praktikum zur Eignungsfeststellung in genau dem Unternehmen absolvieren soll, welches direkt zuvor ihre Festanstellung gekündigt hatte. Oder die Ablehnung eines 1-Euro-Jobs, bei dem immer wieder
gebrauchte Puzzlespiele gelegt werden müssen, um diese auf Vollständigkeit zu prüfen. Oder die massenhafte Zwangszuweisung zu mehrwöchigen
„Erprobungsphasen“ beim Internet-Giganten Amazon ohne Entlohnung. Nur, um kurz nach Bekanntwerden dieses Skandals, laut einer Sprecherin der damaligen Arbeitsagentur „ein Fehler, der korrigiert werden muss“, die zulässige Maximaldauer solcher
„Erprobungsphasen“ seitens des Gesetzgebers von vier auf sechs Wochen anzuheben. Oder die unter Sanktionsdrohung nicht ablehnbare Annahme von unbezahlten, mehrmonatigen Praktika mit der vagen – meist unerfüllten – Hoffnung auf eine
darauffolgende Festanstellung. Hinzu kommt noch eine Vielzahl von Tatbeständen, welche sich aufgrund ihrer Komplexität nicht sachgerecht auf 3 oder 4 Sätze beschränken lassen.
Anhand dieser nur exemplarischen Beispiele lässt sich mehr als erahnen, dass der jahrelang aufgebaute Mythos der „Arbeitsverweigerer“ nur ein Popanz ist, um Stimmung in der Öffentlichkeit gegen die von Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen zu erzeugen. Diesen wird die Rolle der Sündenböcke zugeschoben, um im gelegten Nebel der dann hagelnden Beschimpfungen die Rahmenbedingungen für die Noch-Inhaber von Erwerbstätigkeits-Stellen ebenfalls weiter zu verschlechtern.
Sanktionen – die Allzweckwaffe
Sanktionen haben neben den beschriebenen Wirkungen der Einsparung von Ausgaben sowie der Verbreitung von Angst unter den davon Betroffenen ein weiteres Ziel: Die allgegenwärtige Bedrohung mit Sanktionen soll die Leistungsempfänger zu „freiwilligen“ Verhaltensreaktionen zwingen, welche ohne Sanktionen so nicht möglich wären und in derem Gefolge die nächsten ausgelegten Fallstricke auf sie warten.
Wie ein
aktueller Fall aus Chemnitz eindrucksvoll nachweist, wurde ein Chemnitzer Arbeitsloser nach einer mehrmonatigen (!) Eignungsfeststellung, für welche ihm die Träger abschließend eine „sehr gute“ bzw. sogar „ausgezeichnete“ Eignung attestierten, durch das Jobcenter zu einer, angeblich für die Durchführung der Weiterbildung notwendigen, psychologischen Begutachtung geschickt. Eine Weigerung, diese durchführen zu lassen, hätte als „fehlende Mitwirkung“ eine Sanktion seitens des Jobcenters nach sich gezogen. Diese psychologische Begutachtung diagnostizierte nun plötzlich, völlig im Widerspruch zu den vorherigen Eignungsfeststellungen, gravierende Defizite bei dem Chemnitzer, welche gar in der Diagnose einer „psychischen Behinderung“ gipfelten. Selbst die örtliche Jobcenter-Sprecherin musste zugeben, dass hauptsächlich finanzielle Kriterien die Grundlage für die Einschaltung des psychologischen Dienstes darstellen. So ist es also nicht ausgeschlossen, dass Arbeitssuchende zu diesem Dienst zur Begutachtung geschickt werden, um eine Weiterbildungsmaßnahme zu verhindern und somit die damit verbundenen Kosten einzusparen. Diese Art der Zwangspsychatrisierung aus völlig irrationalen Gründen ist durch nichts zu rechtfertigen und weckt schreckliche Erinnerungen an die finstersten Kapitel deutscher Geschichte.
So wie im geschilderten Fall über die Chimäre „Sanktion“ letztendlich die Weiterbildung eines Arbeitslosen verhindert wurde, so wollte der Chef des Brandenburger Jobcenters nur wenige Wochen zuvor
Arbeitslose zu Weiterbildungsmaßnahmen zwingen. Bezeichnenderweise ebenfalls mit dem Mittel der Sanktion. Während also einerseits mittels Sanktionen Arbeitslose zu Weiterbildungen, welcher Art auch immer, gezwungen werden sollen, wird andererseits unter Zuhilfenahme von Sanktionsdrohungen die Absolvierung einer Weiterbildung verhindert. Es fällt zunehmend schwer, logisch nachvollziehbare Muster hinter bestimmten Vorgaben zu entdecken.
Niederschlag gefunden hat dieser Vorfall jedoch nur in der regionalen Presse. Überregional hingegen widmen sich die Medien stattdessen dem dreißigsten Aufguß der Frage „Wollen Arbeitslose überhaupt arbeiten oder haben sie es sich in der sozialen Hängematte römisch-dekadent bequem gemacht?“, mit der sie die Stammtischdiskussionen beständig am Köcheln halten. So werden Ressentiments in der Bevölkerung hervorgerufen bzw. aufrecht erhalten, während gleichzeitig Informationen und Fakten, welche diese Weltsicht ins Wanken bringen würden, den Menschen vorenthalten werden.
Ein neuerlicher Fall unterstreicht die Entmündigungswirkung durch Sanktionen. So wurde Arbeitslosen in der Region Nienburg die
Teilnahme an einem Rauchentwöhnungskurs „angeboten“. Wie standardisiert üblich, wurde sofort auf der Einladung bei Nichtteilnahme mit Sanktionen gedroht. Ist es schon prinzipiell nicht nachvollziehbar, welche berufliche Qualifizierung ein Rauchentwöhnungskurs darstellen soll, geschweige denn welches Arbeitsangebot, so muss man sich die Frage gefallen lassen, ob ein solcher Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen, wieder mit dem Druckmittel „Sanktion“, mit dem Selbstbestimmungsrecht zu vereinbaren ist.
Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass mittels beständig drohender Sanktionen Menschen zu konformen Verhaltensweisen gezwungen werden. Sie werden unter der Bedrohung der Zerstörung ihrer Existenzgrundlage in ein gewünschtes Verhaltenskorsett gepresst. Jedes im Amtsdeutsch euphemistisch genannte „Angebot“ wird somit, unabhängig von dessen Sinnhaftigkeit, Absurdität oder gar Kontraproduktivität, zum Zwang. Dadurch ist der Repressionscharakter des gesamten Hartz-IV-Systems hinreichend gekennzeichnet.